In der Geschichte ereignen sich mitunter Dinge, die eine Region Jahrhunderte lang beschäftigen und die noch heute im Bewusstsein der Bevölkerung lebendig sind. Im südthüringischen Hildburghausen und dem benachbarten Dorf Eishausen gibt es solche Begebenheiten, die noch nach 200 Jahren die Gemüter berühren: das seltsame Leben von Dunkelgraf und Dunkelgräfin.
Die Ankunft des Paares in Hildburghausen
Am 7. Februar 1807 erhielt die Residenzstadt Hildburghausen merkwürdigen Besuch. In der Nacht passierte eine Kutsche das Stadttor und hielt vor dem Hotel „Englischer Hof“ am Hildburghäuser Markt. Schon Tage zuvor wurde eine komplette Etage des Hotels für die Ankömmlinge gemietet. Der Kutsche entstiegen ein offenbar ebenso vornehmer wie wohlhabender Herr und eine zierlich wirkende Dame. Begleitet wurden sie von einem Diener namens Philipp Scharr, der die Kutsche lenkte und viele Wege und Dienste für die Herrschaften erledigte.
Das seltsame Verhalten des Paares
Emigranten war man in Hildburghausen seit dem Ausbruch der Französischen Revolution gewohnt. Der Herr, der unter dem Namen „Vavel de Versay“ seine Post erhielt, bildete zusammen mit seiner Begleiterin dennoch eine Ausnahme. Sie lebten in völliger Zurückgezogenheit und pflegten nur die nötigsten Kontakte in der Öffentlichkeit. So sah man den Herrn gelegentlich spazieren gehen oder in der Kutsche ausfahren. Die Dame, immer verschleiert oder eine grüne Brille tragend, begleitete ihn oftmals, ging jedoch selbst nie allein außer Haus.
Nach etwa einem halben Jahr zog das Paar in das herzogliche Gästehaus und 1808 in das damals am Rande der Stadt liegende Haus der Witwe Radefeld. Hier konnte man sich etwas freier bewegen. Der Hinterhof des Hauses war von drei Seiten umbaut, so dass man ungesehen die Kutsche besteigen und verlassen konnte. Zudem wurde eine Köchin, Johanna Weber, engagiert, die für eine angemessene Verpflegung sorgte. Die Unterkunft im Radefeldschen Haus soll von der Herzogin Charlotte vermittelt worden sein – offenbar ein Beleg dafür, dass der Hildburghäuser Hof das Paar bevorzugt behandelte. Auch war in dieser Zeit Johann Carl Andreä, ein Kommissionär des Herzogs, für Vavel de Versay tätig.
Indes war auch hier der Aufenthalt nicht von Dauer. Am 30. September 1810 zogen die Herrschaften nach Eishausen, einem kleinen Dorf, wenige Kilometer von Hildburghausen entfernt. Das dortige Schloss, ein schlichter Rechteckbau am südlichen Dorfrand, befand sich seit 1802 im Besitz des Hildburghäuser Hofes und wurde nun an den Kommissionär Andreä vermietet, der es an den Herrn Vavel de Versay weitervermietete. So konnte Versay es vermeiden, selbst mit den Behörden in Verhandlung treten zu müssen.
Das Leben in Eishausen verlief in gleicher Art und Weise wie in der Stadt. Nur ein paar zusätzliche Bedienstete wurden engagiert, um den größeren Haushalt und die längeren Wege in die Stadt zu bewältigen. Die Köchin zog ebenfalls mit in das Schloss, durfte es fortan aber nicht mehr verlassen.
Der Haushalt wurde sehr aufwendig geführt, für die Küche nur die besten Dinge beschafft, Möbel von weit entfernten Orten bezogen. Die Dienerschaft wurde überaus reichlich bezahlt und der Herr übte eine große Wohltätigkeit aus. Schätzungen zufolge hat das Paar in den rund 30 Jahren in Hildburghausen und Eishausen zwischen 300.000 bis 500.000 Gulden ausgegeben – nach heutigen Maßstäben eine Summe von 12 bis 20 Millionen Euro.
Die Kontakte des Herrn de Versay beschränkten sich auf wenige Personen. Mit dem evangelischen Dorfpfarrer Heinrich Kühner unterhielt er eine intensive schriftliche Korrespondenz, ohne ihn jedoch jemals persönlich zu sprechen. Begegneten sich die beiden Männer im Dorf, grüßte man sich nur höflich.
Die Dame trat nie in Erscheinung und war bei Ausflügen mit ihrem Begleiter stets nur tief verschleiert zu sehen. Überhaupt schien die ganze Aufmerksamkeit und Fürsorge des Herrn der Dame zu gelten. Sie war offensichtlich von zarter und empfindlicher Natur und der Herr versuchte, sie vor jeglicher Unannehmlichkeit zu bewahren. So ließ er eines Tages sogar das Neujahrsschießen der Eishäuser Jugend unterbinden, um der Dame die erforderliche Ruhe zu sichern. Da dies mit behördlicher Unterstützung geschah, ist belegt, dass der Hildburghäuser Hof das Paar bevorzugt behandelte.
Dies kommt auch in einem Schreiben zum Ausdruck, in dem Herzog Friedrich am 12. März 1824 seine Regierung anwies: „Wir Friedrich von Gottes Gnaden, Herzog zu Sachsen, souveräner Fürst von Hildburghausen […] möchten […]gegen den Herrn Grafen durchaus diejenigen Rücksichten beobachtet und betätiget wissen wollen, auf welche er sich durch sein bisheriges Benehmen selbst Ansprüche erworben und welche wir ihm gleich bei seinem Eintritte in unser Land haben gedeihen lassen. Wie wir denn den Herrn Grafen solange er seinen Aufenthalt in diesem fortsetzen wird, beständig unter Unseren besonderen Schutz nehmen und nicht zugeben werden, daß ihm irgendeine Unannehmlichkeit zugefügt werde […].“
Selbst als 1826 der angestammte Herzog Hildburghausen verließ, um das Herzogtum Sachsen-Altenburg zu übernehmen und das Hildburghäuser Gebiet dem Herzogtum Sachsen-Meiningen unter der Regierung des jungen Herzogs Bernhard Erich Freund zugeschlagen wurde, blieb die rücksichtsvolle Behandlung des Paares bestehen.
Dieses Leben, das in seiner Zurückgezogenheit so untypisch und damit auch auffällig war, endete erst mit dem Tod der Dame nach 30 Jahren. Nach längerer Krankheit starb sie am 25. November 1837. Der Herr ließ sie an einem ihrer Lieblingsplätze, einem Berggarten in Hildburghausen oberhalb des „Hauses Schulersberg“, in einem gemauerten Steingrab beisetzen. Von den Behörden gezwungen, Angaben zur Identität der Verstorbenen zu machen, gab Vavel schließlich Folgendes an. Name: Sophie(a) Botta. Stand: ledig. Geburtsort: Westfalen. Wohnort: Eishausen. Alter: 58 Jahre. Ledig oder verheiratet: ledig. Zeit des Ablebens: den 25. November 1837. Diese Angaben blieben jedoch bis zu seinem eigenen Ableben geheim.
Mehr als sieben Jahre überlebte Versay seine Begleiterin. Wie seine Dienerschaft später berichtete, hat er kurz vor seinem Tod zahlreiche Papiere verbrannt. Er starb schließlich am 8. April 1845 und wurde auf dem Friedhof von Eishausen beerdigt.
Weitere Einzelheiten können der Chronik zum Leben der Dunkelgräfin und des Leonardus Cornelius van der Valck entnommen werden.
Die Identität der Dame
Mit dem Tod des Herrn endete ein offenbar ungeschriebenes Gesetz: Das Verbot, über das seltsame Paar von Eishausen zu berichten oder Nachforschungen anzustellen.
Schon im April 1845 wurden in der Presse Vermutungen angestellt, wer der Herr und die Dame gewesen sein könnten. Die Untersuchung des Nachlasses brachte Interessantes ans Tageslicht: So hieß der Herr nicht wie angegeben „Vavel de Versay“ sondern „Leonardus Cornelius van der Valck“. Jedenfalls fand sich ein auf diesen Namen ausgestellter Pass. Zudem fanden sich 13 Briefe einer gewissen Agnes Berthelmy aus den Jahren 1798 und 1799, die offenbar an van der Valck gerichtet waren.
Der vom Gericht obligatorisch zu erlassende Erbenaufruf vom 2. Juni 1845 erging daher nicht nur für einen „Vavel de Versay“ bzw. „van der Valck“ sondern auch für eine „Sophia Botta“ und eine „Agnes Berthelmy“. Für van der Valck fanden sich Erben, womit dessen Identität geklärt schien. Auf die Erbschaft der Dame erhobt niemand Anspruch, so dass ihr Nachlass 1848 öffentlich versteigert wurde. Forthin vermutete man, die Dame sei die in den Briefen benannte Agnes Berthelmy gewesen, die – von ihrem früheren Gemahl getrennt – mit van der Valck in Eishausen ein neues Glück gefunden hatte.
Die Spekulationen über die Identität der Dame endeten auch 1852 nicht, als der Sohn des Pfarrers Heinrich Kühner, Karl Kühner, den Beitrag „Die Geheimnisvollen im Schlosse zu Eishausen. Eine wahre Geschichte ohne Lösung“ (anonym) veröffentlichte. Im Gegenteil: die Schrift, die auf eigenen Beobachtungen während seiner Kindheit in Eishausen sowie auf Aussagen von Zeitzeugen beruhte, enthielt eine Andeutung, wer die Dame gewesen sein könnte. Kühner schrieb: „Das Alter der Dame, wie es der Graf angab (58 Jahre im Jahre 1837), würde mit dem der Tochter Ludwig‘s XVI. zusammenstimmen, und es würde einem Romandichter nicht schwer werden, eine Intrigue zu erfinden, wodurch diese echte Königstochter, halb mit Gewalt, halb freiwillig, ins Schloß nach Eishausen verbannt und eine untergeschobene Herzogin von Angoulême an ihre Stelle gesetzt würde.“
Mit dieser Behauptung trat Kühner eine Forschungswelle los, die bis heute anhält. Der zwei Jahre später erschienene Roman „Der Dunkelgraf“ von Ludwig Bechstein gab dem Paar schließlich den bis heute geläufigen Namen „Dunkelgraf und Dunkelgräfin“.
Quelle: Interessenkreis „Madame Royale“ Hildburghausen